
„Was heißt verstehen? Ich sage lediglich, dass ich die Vorstellung einer dauerhaften Bindung an eine andere Person für überholt halte.“
Gedankenverloren sah sie aus dem Fenster. Nach einer Weile wandte sie sich zu ihm. Ihr Blick ruhte auf ihm.
„Um verstehen zu können, ich meine zu allererst sich selbst, muss man erkannt haben, wer man ist.“
„Ich kann dir nicht folgen.“
„Geht jedes Verstehen nicht von der irrigen Annahme aus, mein eigener persönlicher Deutungsrahmen sei für andere verstehbar. Wie kann jedoch ein anderer mein Denken oder Intentionen meines Handelns je verstehen, wenn mir allzu oft jenes Verstehen meiner selbst entzogen ist.“
„Beziehungen scheitern also an mangelndem Verständnis für einander?“
„Nein, so kann man es nicht sagen. Es ist das Unverständnis, welches Beziehungen regelmäßig in die Krise führt.“
„Unverständnis?“
„Ich könnte auch sagen: Das Leben lehrt mich Nichtverstehen. Irgendwann begreift doch jeder, dass er wenig weiß. Vielleicht nur dies eine, dass alles im steten Wandel ist und auch das eigene Sein nicht von Dauer ist.“
„Du verblüffst mich, Miriam.“
„Nicht ich, das Leben verblüfft dich, oder besser, dass was du daraus machst, vor allem in deiner Rückschau und Erinnerung.“
Sie schüttelt den Kopf.
„Bist du sicher, dass dir deine Frau nicht längst deinen einmaligen Fehltritt verziehen hat? Aber sie hat nichts anderes und hält darum daran fest.“
„Willst du wirklich wissen, warum ich damals. Du weißt schon.“
Sie schüttelt mit einem verächtlichen Blick den Kopf.
„Du bist zu feige, auszusprechen, was du gemacht hast. Und dies nach all den Jahren.“
„Ich dachte auch, du wärst längst darüber hinweg. Irgendwann muss es doch gut sein.“
„Du meinst also, ich sollte nachsichtiger mit dir sein. Mein Kleiner komm her! Lass dich umarmen. Du bist wirklich arm dran mit mir.“
„Willst du nun, oder nicht?“
„Was? Ungezwungenen Sex? Immer. Nur zu.“
„Also bist du darüber hinweg?“
„Worüber?“
„Keine Kinder bekommen zu haben.“
„Du glaubst doch nicht wirklich, ich hätte dich zum Vater meiner Kinder machen wollen. So untreu, wie du warst.“
„Ich werde nicht mehr darauf zu sprechen kommen. Nutze die Gelegenheit!“
„Im Nutzen von Gelegenheiten, warst du immer groß. Springst mit der erstbesten gleich in die Kiste. War es wenigstens angenehm? Ich kann mich gut erinnern, wie du in jenen Tagen ziemlich schlapp gemacht hast. Hast du überhaupt einen hochbekommen?“
„Soll ich die Details jener Nacht vor dir ausbreiten?“
„Verschon mich damit. Ich kann es mir denken. Also schütte endlich dein Herz aus! Was hat dich in die Arme einer anderen getrieben? Sag nicht, ich wäre Schuld daran. Das kann nämlich nicht sein. Vor jener Nacht war ich dir geradezu verfallen. Ich hätte sogar damit leben können, keine Kinder zu bekommen.“
„Wirklich?!“
„Glaubst du, mir hat es Spaß gemacht, Abend für Abend?“
Er horchte auf. Einen Augenblick dachte er, sie würden einander verstehen. Warum hatten sie nie wirklich darüber gesprochen? Zwei verzweifelte Seelen waren sie damals gewesen, in sich gekehrt und verstummt, nicht mehr fähig, das Offensichtliche anzusprechen. Sie hatten das Thema „Wir bekommen ein Kind“ zu ihrem gemacht. Aus einer Möglichkeit wurde Besessenheit, etwas, das sie sich gegenseitig immer und immer wieder vorhielten. Am Ende blieb alle Lust und Leidenschaft auf der Strecke. Alles, was sie bis dahin als etwas Schönes und Beglückendes erlebt hatten, wurde zu einem mechanischen Vorgang. Irgendwann begann er, sich Termine auf die Abende zu legen. Regelmäßig floh er frühzeitig ins Bett, gab vor noch etwas lesen zu wollen und stellte sich schlafend, wenn Zahra kam. Andere Male, wenn er seinem Kinderwunsch wieder näher kam, wies sie ihn ab. Längst hatten sie sich auf imaginäres Schattenboxen eingelassen und erzählten jedem davon, der nichts davon wissen wollte. Sie begegneten einander mehr und mehr mit verstohlenen Blicken. Schauten sich kaum noch an. Er wachte nachts auf und wandelte lange im Haus auf und ab. Eines Nachts stand er lange vor der Terrassentür. Nackt und frierend sah er in den vom Vollmond hell erleuchteten Garten. Vor einiger Zeit hatte er davon geträumt, spielenden Kinder beim Schaukeln, beim Buddeln im Sandkasten, beim Versteckenspielen zuzusehen. In dieser Nacht verfluchte er zum ersten Mal die Vorstellung, ein Kind zu bekommen. Nicht um jeden Preis. Man kann das Leben, noch weniger das Leben eines anderen, erzwingen. Gleich am nächsten Morgen wollte er reden, sich Zarah anvertrauen, über seine Bedenken sprechen und war überzeugt, dass sie ihn verstehen würde. Er verschlief den halben Vormittag. Als er endlich in die Küche kam, war sie längst fort. Auf dem Küchentisch lag ein Zettel. „Bin heute Abend unterwegs. Warte nicht.“ Immer seltener gelang es ihnen zu einer unbeschwerten Zweisamkeit zurückzufinden. Jeder ging seinen Weg. Traf sich mit Freunden oder saß endlos lange vor dem Fernseher. Es kam immer öfter vor, dass einer von ihnen nicht mehr den Weg vom Sofa ins Bett fand. Was wäre gewesen, wenn einer von ihnen den Mut aufgebracht hätte, darüber zu reden?
„Wolltest du nicht endlich etwas sagen?“
Zahra riss ihn aus seinen Gedanken.
„Ich?“
„Wer sonst? Siehst du noch jemanden hier? Aber wahrscheinlich sind dir mal wieder die Worte ausgegangen? Ich gebe dir noch eine Minute. Wenn du dann nicht in Pötte gekommen bist, dann war’s das für heute? Ich kann mir die Zeit auch angenehmer vertreiben.“
„Darin sind wir ja seit geraumer Zeit Meister.“
„Fünfundvierzig Sekunden.“
„Hör auf damit!“
„Siebenunddreißig Sekunden.“
„Wenn du willst, dass ich anfange, lass den Quatsch. Ich kann auch ohne diesen anfangen.“
„Zwanzig Sekunden.“ „Ich rede mit dir.“
„Zehn, neun, acht, sieben, sechs.“
Er hätte sie am liebsten gewürgt.
„Fünf, vier, drei, zwei.“
„Halt! So kann ich nicht anfangen.“