
Sie aßen schweigend. Jeder schien, seinen Gedanken nachzugehen. Das Wetter hielt sich und so nahmen sie den Kaffee draußen auf der Terrasse ein.
„Ich würde gerne nochmals auf das Projekt Kind zu sprechen kommen.“
„Kannst du dies nicht anders ausdrücken?“
„Könnte ich, aber mir scheint, hinter deinen Emotionen stecken knallharte Fakten.“
Irritiert über die Wortwahl, war er geneigt, das Gespräch sofort abzubrechen. Fakten. Was für Fakten sollte es geben?
„Du guckst so skeptisch. Ich scheine dir zu jung, um dir etwas sagen zu können?“
„Nein. Doch, das ist es auch. Aber vor allem irritiert mich deine barsche Wortwahl. Projekt Kind. Wie hört sich das an? Nicht nach einem Liebesakt.“
„War er das denn?“
„Anfangs schon. Aber später nicht mehr.“
„Genau dies habe ich so wahrgenommen.“
Sie sah ihn fragend an. Er wich ihrem Blick aus.
„Mag sein, dass ich mit meinen vierundzwanzig Jahren noch keine allzu fundierte Lebenserfahrung habe, aber so ganz unwissend bin ich auch nicht mehr. Ich bin gerade fertig mit meinem Studium und nehme mir eine Auszeit.“
„Was hast du studiert?“
„Psychologie, mit Schwerpunkt Klinische Psychologie. Sozusagen als Einstieg. Ich bin mir noch nicht sicher, wohin die Reise letztlich hingeht.“
„Reise?“
„Ist das Leben nicht mehr eine Reise als ein Verharren an einem festen Ort, in welcher Hinsicht auch immer?“
„Wahrscheinlich hast du Recht. Ich musste mich ja auch erst auf den Weg machen, um dir zu begegnen. Wenn ich überlege, wie lange ich all das, was ich ja andeutungsweise angesprochen habe, mit mir herumschleppe. Warum warten wir so lange?“
„Aus Eitelkeit?!“
„Wie bitte?“
„Wir können uns nicht damit abfinden, dass wir endliche und fehlerhafte Wesen sind. Und werden wir dessen gewahr, dann beginnt ein Wettlauf mit uns selbst und den anderen. Nichts von dem darf sichtbar werden.“
„Ganz schön weise für dein Alter.“
„Ich weiß nicht. Vielleicht ist es ja eine Form der Weisheit, frühzeitig aus den gängigen Spielen der Erwachsenen auszusteigen. Auf jeden Fall vermute ich, dass dir und deiner Frau eine gehörige Portion Eitelkeit im Wege steht, gerade um ein langjähriges und schmerzhaftes Thema miteinander in Frieden abschließen zu können.“
„Ich kann dir nicht widersprechen, auch wenn der Gedanke mit der Eitelkeit mich überrascht. Die Schuld bei jemand anderem zu suchen, ist wohl auch eine Form von ihr.“
„Die Eitelkeit um unser Erscheinungsbild vor anderen wird uns nie loslassen. Sie treibt uns ein Leben lang um. Darum sind wir auch nachsichtig mit unserer eigenen Hässlichkeit und erbarmungslos mit der der anderen.“
„Wohl wahr. Deine klare Sprache gefällt mir.“
„Das ist schon das zweite Kompliment. Muss ich mir Gedanken machen?“
„Nein! Du könntest meine Tochter sein.“
„Muss das ein Hindernis sein?!“
„Belassen wir es bei dem, was es ist. Klare Worte. Mir tut das Reden mit dir gut. Ich bin dankbar für deinen Hinweis mit der Eitelkeit. Wie gut, dass ich mich bei dir nicht auf diese konzentrieren muss.“
„Bist du sicher?“
„Ich denke schon. Ich muss mich dir gegenüber nicht besser machen als ich bin. Ich habe um nichts zu kämpfen, kann nichts verlieren und doch viel gewinnen. Weißt du, dass es mir richtig gut geht? Gestern hätte ich noch sonst was machen können.“
„Ich verstehe, deine Frau mit der Axt zerspalten.“
„Und wenn es so wäre.“
„Würdest du nur zugeben, dass in deinen Adern noch Blut fließt.“
„Ich habe mich bisher immer für meine negativen Gedanken anderen gegenüber geschämt.“
„Grundlos. Sie sind allzu menschlich. Was glaubst du, wie oft ich meine Eltern in Gedanken zerteilt habe. Aber es hat nie gereicht eine Axt zu kaufen.“
„Bei mir auch nicht.“
„Wenn wir weiterhin gut durchkommen, sind wir in gut vier Stunden an einem wunderbaren Ort mit einem herrlichen Blick auf das Meer.“
„Ich lass mich überraschen.“
Zahra ging spontan auf meinen Vorschlag ein, einen kleinen Spaziergang über die Felder zu machen.
Unterwegs sprachen wir kaum. Auch sie schien sichtlich von ihrem Schlagabtausch, ergriffen zu sein. Es regnete nicht mehr. Er fragte sich, was anders gewesen wäre, wenn sie Kinder bekommen hätten. Würden sie dann mit einem gemeinsamen Kind den gleichen Weg nehmen? Er war sich sicher, es würde sich gut anfühlen. So sehr auch die traditionellen Vorstellungen von Ehe und Familie im Wandel waren. Ihnen haftete immer noch etwas Besonderes an, etwas, was fern von den auf Hochglanzprospekten abgebildeten strahlenden Familien war. Familien waren keine heilige Institution mehr, die ihr Sein aus sich selbst nahmen. Sie waren dennoch reale Orte eines besonderen Glücks. Einer ganz besonderen Verbundenheit. Eines Seins in stürmischen Zeiten.
Er ließ sich ein Schritt hinter Zahra zurückfallen, um sie unbemerkt betrachten zu können. Die Jahre waren nicht spurlos an ihr vorüber gegangen. Ihr Gang war aber immer noch aufrecht. Der Gang einer ihrer selbst bewussten Frau. Einer Frau, die nicht alles im Leben erreicht, aber zu dem stand, was das Leben ihr abverlangt hatte. War dies wirklich so, oder nur ein Produkt seiner eigenen Vorstellung? Hatte er in ihr immer nur die starke Persönlichkeit sehen wollen? Das bisherige Gespräch hatte eher eine sehr angegriffene Person gezeigt, die um ihr Sein rang.
Ihr Gang fiel ihm mit einem Mal auf. Er war gar nicht so aufrecht. Er hatte geradezu etwas Schleppendes. Die Schultern nach vorne gebeugt, so, als liege eine schwere Last auf ihr, die Last unerfüllter Hoffnungen und Erwartungen. Wie blind war er gewesen, dies nicht vorher wahrgenommen zu haben. Oder hatte er es einfach nicht sehen wollen?
Plötzlich wurden seine Schritte schwerer und schwerer. Er hielt an. Zarah ging weiter. Scheinbar ohne davon Kenntnis zu nehmen. Bald war sie aus seinem Blickfeld hinter einer Hügelkuppe enteilt.
Er rief ihr nach, aber sie hörte ihn längst nicht mehr. Kraftlos verharrte er in Selbstmitleid, verfluchte das Leben im Allgemeinen und Besonderen. Er fühlte sich elend, wie lange nicht mehr und wäre am liebsten im Boden versunken.
Es fiel ihm schwer, sich zum Weitergehen zu motivieren. Auf den nächsten Meter trieb ihn die Aussicht voran, Zahra sei umgekehrt und würde ihm nun entgegenkommen. Dies würde ein Zeichen sein. Das Zeichen einer Versöhnung. Er war bereit, alles zu vergessen. Lass uns einen Neuanfang wagen! Komm mir entgegen! Eile! Ich bin gleich bei dir.
Die ersehnte Begegnung blieb aus. Wo war sie? Würde er sie je wiedersehen? Er fiel ins Bodenlose. Schrie auf, bis nur noch ein leises Wimmern seine Kehle verließ. Zahra! Komm zurück! Wir werden über alles in Ruhe reden können und am Ende geläutert in eine gemeinsame Zukunft gehen. Seine Gedanken erhoben sich, wie ein Schwarm aufgescheuchter Raben, die pickend auf dem Feld sitzen. Alles wird gut, sagte er sich. Sein Gang wurde wieder leichter. Er lief los, in der Hoffnung Zahra noch einholen zu können.
Nach einigen hundert Metern sah er ein, wie aussichtslos sein Unterfangen war. An einer Weggabelung entschied er sich für den Rückweg. Der Himmel hatte sich verfinstert. Bedrohlich finstere Wolkengebilde schwebten über ihm.
Durchnässt öffnet er die Haustür. Klirrendes Geschirr in der Küche deuteten darauf hin, dass Zahra bereits da war. Er legte seine nasse Kleidung im Bad ab und zog sich um.
Als er wenig später die Küche betrat, war Zahra nicht mehr dort. Er füllte den Wasserkocher auf und bereite sich einen Tee. Zahra war weder im Wohn- noch im Esszimmer. Hatte er sich getäuscht? War sie noch unterwegs? An der Garderobe hing ihre Jacke und ihre Schuhe standen auch dort. Er rief nach ihr, bekam aber keine Antwort.