Eitelkeiten VI

„Halt sofort an!“ 

„Hier? Das geht nicht. Ich kann nicht einfach rechts heranfahren. Das ist verboten.“ 

„Ich muss mal.“ 

„Du musst eine Weile aushalten. Ich fahre bei der nächsten Gelegenheit rechts ran.“ 

„Ich mache mir jetzt in die Hose.“ 

Widerwillig hielt er hinter der nächsten Bergkuppe abrupt an.

„Beeil dich! Ich möchte nicht von der hiesigen Polizei aufgegriffen werden.“ 

„Du kannst mich ja für deine Tochter ausgeben, die einfach nicht mehr einhalten konnte. Oder bist du nicht nur vor deiner Frau auf der Flucht?“

Er gab ihr keine Antwort, wendete den Blick ab und sah durch das Fahrerfenster. Für einen Augenblick bereute er, sie mitgenommen zu haben.

„Bin gleich wieder da“, versuchte sie ihn zu beruhigen, während sie die Wagentür öffnete und hastig ausstieg. Nach einigen Schritten war sie in einem Sonnenblumenfeld verschwunden.

Als ein vorbeifahrendes Fahrzeug hupte, zuckte er zusammen. Genervt schloss er die Augen und atmete tief durch.

„Was ist los mit dir?“

Wieder schreckte er auf.

„Können wir weiter?“ 

„Beeindruckend diese blühenden Sonnenblumenfelder.“

Eine Weile schwiegen sie sich an. Ein Gespräch zwischen ihnen wollte nicht so recht zünden.

„Entschuldige, du hast gerade etwas abbekommen, was nicht für dich bestimmt ist.“

Sein Ton war versöhnlich.

„Mach dir nichts draus. Ich habe es nicht persönlich genommen. Dafür gibt es ja keinen Anlass. Wir kennen uns kaum.“

Er nickte.

„Willst du mir erzählen, warum du so genervt bist?“

Einen Augenblick zögerte er. Sich einer wildfremden Person anvertrauen, gehörte bei Leibe nicht zu seinen Gewohnheiten. Aber warum nicht, sagte er sich. Es würde bei einer flüchtigen Bekanntschaft bleiben.

„Nur, wenn du mir später erzählst, warum du alleine mit dem Rucksack unterwegs bist.“ „Abgemacht.“ 

„Es ist immer das gleiche Thema, um das unsere Beziehung seit so vielen Jahren kreist. Wir haben nie Kinder bekommen.“

„Ihr wolltet beide Kinder.“ 

„Ja und nein.“ 

„Was nun?“ 

„Eigentlich schon.“ 

„Und uneigentlich?“ 

„Es ist nicht so einfach. Wir haben nie richtig darüber gesprochen. Wahrscheinlich machen das die wenigsten Paare. Irgendwie gehört es dazu. Sicher spricht man darüber, ob man sich grundsätzlich vorstellen kann, Kinder zu miteinander zu bekommen.“

„Man bekommt Kinder. Wie romantisch.“

Einen Augenblick war er versucht, das Gespräch zu beenden. Aber das Bedürfnis, mit einer neutralen Person nochmals über alles reden zu können, überwog.

„Ohne das wir es merkten, gerieten wir in eine Spirale aus vergeblichen Versuchen. Dies ging über Jahre, bis wir uns mehr und mehr entfremdet haben. Einfache Nähe miteinander zu teilen war kaum noch möglich.“ 

„Wie das?“ 

„Wir waren so focusiert auf den Zeugungsvorgang, dass dieser zu einer ziemlich künstlichen Angelegenheit wurde. Einer Pflichtaufgabe am Abend.“ 

„Das hört sich nicht gut an.“ 

„Es war furchtbar. Ich habe meine Frau einmal sehr geliebt. Schleichend verlor ich, ich weiß nicht so recht, wann es genau begann, jeden Bezug zu ihr. Ihre Gegenwart wurde mir unangenehm. Das eine Thema stand zwischen uns. So haben wir peu a peu jedes Interesse füreinander verloren. Es dauerte nicht lange, bis wir damit begannen, uns gegenseitig Vorwürfe zu machen.“ 

Er schaute sie an. Ihr Blick war ihm zugewandt. Wie anders es sein konnte, wenn jemand nur zuhörte. Es tat ihm gut, sich aussprechen zu können. Gleichzeitig erfüllte ihn ein Gefühl tiefer Traurigkeit. 

„Und wie geht es dir heute mit der Tatsache, keine Kinder zu haben?“

„Wenn ich auf unsere Beziehung schaue, bin ich froh. Gleichzeitig aber auch sehr traurig. Ich erinnere mich gerne an meine Kindheit. Ich hatte zwar keine Geschwister, unser Familienleben habe ich jedoch immer sehr genossen. Meine Eltern waren gute Eltern, die besten für mich. Meine Frau hatte drei Geschwister. Da ging es ganz schön her. Soweit ich weiß, blickte sie selbst auf eine glückliche Kindheit zurück.“

Gedankenverloren betrachtete er die vorbeieilenden Fahrbahnmarkierungen.

„Es war nie eine Frage, ob wir wirklich Kinder haben möchten.“ 

„Du glaubst aber nicht, dass der Kinderwunsch und eine eigene gute Kindheit ausreichend für das Projekt Kind sind?“ 

„Projekt Kind. Wie sich das anhört.“ 

„Entschuldige, aber es passt zu dem, was du gerade beschrieben hast.“

 „Du hast recht.“ 

Bei nächster Gelegenheit fuhr er einen Landgasthof an. Er hatte das Bedürfnis, sich zu bewegen. Gleichzeitig verspürte er leichten Hunger. Ihrem wiederholt ins Stocken geratenes Gespräch würde eine Pause sicher auch gut tun. 

„Willst du mir sagen, es liegt mal wieder nur an mir, dass du nicht in die Puschen kommst?“

„Nein, will ich nicht. Was ich sagen will ist: Warum haben wir nie darüber gesprochen?“ 

„Worüber?“

„Das es mit dem Kinderkriegen nicht geklappt hat. Wir hätten uns darüber austauschen können, wie es uns damit gegangen ist.“ 

„Das fällt dir heute ein. Weißt du, wie lange das alles her ist?“ 

„Ich mache dir doch keinen Vorwurf. Ich habe mich damals oft gefragt, wie es dir geht. Nein, ich wollte selbst loswerden, wie es mir mit den endlosen Versuchen geht.“ 

„Warum hast du nichts gesagt? Oder hast du geglaubt, ich stecke das alles so einfach weg?“ 

„Du warst damals sehr angespannt. Hattest viel um die Ohren auf der Arbeit.“ 

„Das darf nicht wahr sein. Du willst also behaupten, ich wäre zu sehr im Stress gewesen, um schwanger werden zu können?“ 

„Es ist doch erwiesen. Stress verringert die Chance, schwanger zu werden. Vielen Paaren geht dies so.“ 

„Paaren. Du sagst es. Paaren. Wie zu allem gehören auch zum Kinderkriegen zwei. Du warst nicht minder im Stress. Hast zu vergessen, wie du nächtelang durchgearbeitet hast? Kein Wunder, dass ich nicht schwanger geworden bin.“ 

„Die Schuldfrage bringt uns nicht weiter. Ich frage mich nur, warum wir uns nie ausgesprochen haben. So wie jetzt, wo es im Grunde zu spät ist.“ 

„Dann lass es doch. Ich habe dich nicht gezwungen, nochmals in alten Dingen herumzurühren … schon gar nicht in solch schmerzhaften.“ 

Mehr und mehr gewann er den Eindruck, alle über die Jahre zurück gehaltenen Worte, Worte die im Verborgenen weiter existierten, ohne je an die Oberfläche gekommen zu sein, würden sich in einer einzigen nicht zu kontrollierenden Eruption über ihnen ergießen. Erstaunt über sich selbst, schockiert über die Gewalt, mit der er die längst verschollen geglaubten Gedanken hervorbrachte, schien es ihm ratsam, eine weitere Pause einzulegen. Die ganze Art des Gesprächs gefiel ihm nicht. Ihnen gelang es nicht, beim eigentlichen Thema zu bleiben. 

Gab es dieses eine Thema überhaupt? War das Eigentliche nicht wie so oft Ausdruck für das Uneigentliche, das, worüber man nicht sprach? Hatte ihr Nichtredenkönnen gar einen ganz anderen Zusammenhang?Hatten sich zwei Körper einander verweigert, weil sie in anderen Dingen nicht zu einander finden konnten? War das vermeintlich eigentliche Thema über die Jahre nicht zum Schlachtfeld für das geworden, was unausgesprochen zwischen ihnen stand?

Er spürte, wie er im schwindelig wurde und der Boden unter ihm zu wanken begann.